Erzählreise - mit Geschichten um die Welt

Geschichten bauen Brücken: ein Schulprojekt an der Grundschule Simmernstraße / München-Schwabing im Schuljahr 2017/2018

„Und wo bist du dann am Mittwoch, wenn du nicht mehr mit uns ins Märchenland reist?“ – Die Kinder der zweiten Klassen in der Grundschule an der Simmernstraße können sich eine Woche ohne Erzählreise gar nicht mehr vorstellen. Die gemeinsame Wanderung ins Märchen- und Geschichtenland ist zu einer festen Größe im Schulalltag geworden. Ergänzend zum regulären Schulprogramm bot das Märchen- und Geschichtenerzählen den Kindern über das Schuljahr hinweg einen besonderen Imaginationsraum, den sie voller Begeisterung, mit sehr viel Kreativität und mit ihren ganz eigenen Ideen, Worten und Bildern gefüllt haben.

Das Projekt Erzählreise in der Grundschule an der Simmernstraße hat am 11. Juli 2018 nach 30 Projektwochen erfolgreich geendet. Von Oktober 2017 bis Juli 2018 gingen insgesamt 117 Kinder der 2. Klassenstufe (davon 67 Jungen und 50 Mädchen) jeweils 15 Wochen lang mit der professionellen Geschichtenerzählerin Cordula Carla Gerndt auf Erzählreise. Insgesamt nahmen fünf zweite Klassen am Projekt teil. Davon drei im ersten und zwei im zweiten Schulhalbjahr. 

Für die Erzählstunden wurde der Mehrzweckraum der Schule genutzt und jedes Mal gemütlich gestaltet. Die Kinder saßen auf Stühlen und Kissen dicht beieinander, sodass eine intensive Erzählatmosphäre entstand. Die Kinder waren die gesamte Zeit überaus freudig, aufmerksam und kreativ mit dabei.

Neben bekannten und unbekannten Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm wurden Geschichten aus anderen Kulturkreisen ausgewählt, sodass sich auch Kinder mit Migrationshintergrund gut mit den Erzählstoffen identifizieren konnten. Es wurde deutlich: Märchen gibt es auf der ganzen Welt! Ebenso wie Geschichtenerzählen ein urmenschliches Bedürfnis ist! So erlebte zum Beispiel ein russisches Mädchen das Märchen „Siwka Burka“ (Leo Tolstoi) in ganz besonderer Weise. Beim Nacherzählen der Geschichte trug dieses Kind einen Teil des Märchens in seiner Muttersprache vor. Die anderen Kinder der Klasse lauschten den russischen Worten gebannt und waren tief beeindruckt von diesem ungewohnten „Klang“ der Geschichte.

Folgende Märchen wurden erzählt: Rotkäppchen (Brüder Grimm), Die 3 Federn (Brüder Grimm), Fundevogel (Brüder Grimm), Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (Brüder Grimm), Drei Männlein im Walde (Brüder Grimm), Die Wichtelmänner (Brüder Grimm), Patas Grandes (Südamerika), Der Zauberpinsel (China), Die Dunkelheit (Cordula Gerndt), Siwka Burka (Russland), Jack und die Bohnenranke (England), Der schlaue Hase (Afrika), Der Hutmacher (Afrika), Paddy (Schottland), Sechse kommen durch die ganze Welt (Brüder Grimm), Tranquila Trampeltreu (Michael Ende)

Ein wichtiges Element der Erzählreisen war immer auch das Anfangs- und Abschlussritual. Mit einem gemeinsam gesprochenen und von rhythmischen Bewegungen begleiteten Spruch überlegten sich die Kinder jeweils drei „Hindernisse“, die auf dem Weg ins Geschichtenland überwunden werden mussten. Die Phantasie der Kinder kannte keine Grenzen. Sie sprudelten vor Ideen und waren jede Woche mit neuem Feuereifer dabei, „gefährliche Hindernisse“ zu erfinden. So sind wir gemeinsam durch Meere geschwommen, haben Mauern überklettert, haben mit Drachen gekämpft, Brote gebacken, Riesen überlistet, Tunnel gegraben, sind auf Elefanten geritten und über schmale Brücken balanciert ...

Ein weiteres für die Kinder wichtiges Ritual war die Schatztruhe, in der sich jede Woche ein anderer Gegenstand befand. Dieser gab jeweils einen Hinweis auf die nächste Geschichte. Die Kinder rätselten mit Freude, was für ein Märchen sich dahinter verbergen könnte. Der darauf folgende Ton der Klangschale öffnete dann den „stillen Raum“ für das Erzählen und Zuhören. Sobald der Ton der Schale verklungen war, begann das Märchen. Es war einmal ...

Wiederkehrenden Rituale sind für Kinder in diesem Alter sehr wichtig. Keine Erzählreise ohne Hindernislauf ins Märchenland, ohne Schatzkiste oder ohne Klangschale! Die Schülerinnen und Schüler forderten diese Elemente aktiv ein.

Auch in ihrem Feedback wurde deutlich: Schatztruhe und Klangschale waren – neben den Geschichten – besondere Highlights des Projekts.

Zum Schuljahresabschluss wurde auf einer großen Pinnwand in der Schule eine Ausstellung mit Fotos der Kinder beim Märchenerzählen und ausgewählten Zeichnungen zu den verschiedenen Geschichten gestaltet. Aus zwei Märchen wurden zudem kleine Geschichtenbüchlein hergestellt, in die der nacherzählte Text mit selbst gemalten Bildern der Kinder gedruckt wurde. Für die Kinder waren diese „echten Bücher“ ein besonderes Erfolgserlebnis.

Mit großer Freude und Zufriedenheit blicke ich als Projektleiterin auf das Schuljahr zurück. Die vielen Ideen der Kinder sowie die tollen Gespräche und Interaktionen in den Erzählstunden lassen sich in einem Projektbericht gar nicht alle wiedergeben.

Ich bedanke mich von Herzen bei der Schulleitung, den Lehrerinnen und vor allem auch bei den Sponsoren und finanziellen Unterstützern des Projekts. Sie haben damit den Kindern eine nachhaltige, qualitativ erfüllte und sinnstiftende Zeit ermöglicht. Ich bin überzeugt, dass Märchen und Geschichten einen fruchtbaren Boden bereiten, auf dem Kinder mit ihren ganz individuellen Lebensgeschichten in vielfältiger Weise Inspiration, Bestärkung und Unterstützung finden können.

Cordula Carla Gerndt, 14. Juli 2018, www.geschichtenpraxis.de